Quelle: Sonntag Aktuell, 05.12.2004, S. 3 Zeitgeschehen

Wir vergessen, was wir essen

Kinder kennen heute mehr Automarken als Wildpflanzen. Viele von ihnen meinen, dass Kuehe lila sind und Fische als Staebchen im Meer umherschwimmen. Biologiestudenten analysieren Zellvorgaenge bis ins Detail, koennen aber eine Amsel nicht von einem Spatz unterscheiden. Eine katastrophale Entwicklung, findet Claus-Peter Hutter, Praesident der Umweltstiftung Euronatur, in einem Gastbeitrag.

Die dynamische und nicht so schnell aus der Fassung zu bringende Professorin schuettelte verwundert den Kopf. Als sie mit Biologiestudenten des ersten Semesters quer durch Feld und Flur wanderte, um praxisnahe Anknuepfungspunkte fuer ihre Vorlesungen zu finden, stand der wissenschaftliche Nachwuchs ahnungslos vor einem Haferfeld. Unglaublich, aber wahr: Die Studenten, von denen vielleicht noch mancher morgens ein herzhaftes Muesli mit Haferflocken gegessen hatte, wussten nicht, dass die Aehrenpflanzen vor ihnen Hafer sind und dass man daraus Haferflocken herstellen kann.

Wenige Meter weiter war auch jenen angehenden Akademikern, die sich eine selbst gedrehte Zigarette angesteckt hatten, nicht bewusst, dass es sich bei den sattgruenen Blattbuescheln, die da in langen Reihen aus dem Boden ragten, um Tabak handelte. So wie Annette Otte, Professorin am Lehrstuhl fuer Landschaftsoekologie und Landschaftsplanung der Justus-Liebig- Universitaet in Giessen, geht es immer mehr Menschen, die sich mit der Vermittlung von Naturwissen beschaeftigen. Sie stellen fest: Immer mehr Deutsche wissen nichts ueber die Zusammenhaenge im Naturhaushalt.

Kinder und junge Erwachsene sind davon gleichermassen betroffen. Ein Beispiel ist mir dabei noch besonders vor Augen: "Die hat aber ein weiches Fell, die Kuh", sagte die kleine Anna zu ihrer Oma. Doch was sie vor sich hatte, war keine Kuh, sondern ein Schaf. Wuerde man die Pisa-Studie auf das Arten- und Naturwissen uebertragen, so waeren die Ergebnisse noch Besorgnis erregender als bei Mathematik und Deutsch.

Es ist kaum uebertrieben, wenn man feststellt, dass heute viele angehende Biologen eine Amsel nicht von einem Spatz, geschweige denn eine Moenchsgrasmuecke von einer Nachtigall unterscheiden koennen. Vielleicht liegt eine der Ursachen gerade in der Entwicklung der Lehrerausbildung. "Im Bereich des Heimat- und Sachkundeunterrichts wurden die Inhalte vielfach auf ein Schmalspurfachstudium reduziert", kritisiert Stefan Roesler, Vizepraesident des Naturschutzbundes Deutschland. So wie er beklagen viele Umweltschuetzer, dass im Fach Biologie in den Schulen und an den Universitaeten die Themen der Botanik und Zoologie - wenn ueberhaupt - nur am Rande Beachtung finden.

Dazu kommt: Immer weniger Menschen haben direkten Kontakt zur Natur. Kuerzlich stellte ich bei einem Gespraech mit Abiturienten fest, dass die meisten in ihrem ganzen Leben noch niemals einen Baum oder einen Strauch gepflanzt, noch nie Radieschen oder Zwiebeln gesteckt oder gar Tomaten hochgezogen haben. Kein Wunder, wenn man bedenkt, dass nur noch etwa zwei Prozent der Erwerbstaetigen in Deutschland in der Land-, Forstwirtschaft und Fischerei taetig sind. Sind es in Rheinland-Pfalz noch rund drei Prozent, erzielen in Baden-Wuerttemberg nur noch 0,7 Prozent der Erwerbstaetigen ihr Haupteinkommen aus Land- und Forstwirtschaft.

Fuer viele Menschen wird Landschaft und Natur heute allenfalls zur gruenen Kulisse fuer Freizeitbeschaeftigung. Waehrend immer mehr Aepfel und Birnen im Herbst auf den Obstbaumwiesen vergammeln, suchen deren Eigentuemer schweisstreibende Betaetigung in den Fitnessstudios.

Denke ich an die eigene Kindheit, so waren es doch auch die Tage auf Opas Streuobstwiese, die eindrueckliche Begegnungen mit der Natur mit sich brachten: das Verbrennen des Baumschnitts im Winter, der erste Schmetterling im Vorfruehling, reife Kirschen im Sommer, Erntezeit im Herbst. Auch wenn das Auflesen von Obst laestig war, verbinde ich mit diesen Erlebnissen, mit dem anschliessenden Mostpressen und mit dem ersten Schluck frisch gepressten Apfelsafts gleichermassen Heimatkultur wie Naturerlebnis.

Mittlerweile haben sich die Zeiten gewandelt, und viele Kinder koennen eine Zwetschge nicht mehr von einer Pflaume unterscheiden. Ein Freund, der sich jahrelang darueber geaergert hatte, dass ihm Kinder auf dem Schulweg fruehmorgens die Walnuesse unter seinem Hausbaum wegklauten, stellt seit einiger Zeit fest, dass sich die Kids laengst nicht mehr nach den Nuessen auf dem Gehweg buecken, sondern diese einfach sinnlos zertrampeln.

Die Wissenserosion erstreckt sich auch auf das Essen, wo eine neue Generation von Analphabeten heranwaechst. Menschen, die lesen, schreiben und rechnen koennen, aber von Ernaehrung keine Ahnung haben. Sie wissen weder, wo Vitamin A oder B drinsteckt, noch wozu Folsaeure gut ist. Von Ballaststoffen haben sie keine Ahnung. Kochen? Nein, danke!

Doch Fehlernaehrung, Fettleibigkeit und Bildungsmangel auf der einen Seite sowie fehlendes Wissen um grundlegende Zusammenhaenge zwischen Natur, Kulturlandschaften und gesundem Essen andererseits sind zwei Seiten derselben Medaille. Es muss schon zu denken geben, wenn die Folgekosten ernaehrungsbedingter Krankheiten in Deutschland bereits 40 Milliarden Euro jaehrlich betragen. Wer nicht weiss, wie er sich selbst - auch mit einfachen Mitteln - ein gesundes, schmackhaftes Essen zubereiten kann, der wird immer wieder zu Fast Food greifen.

Damit besteht die Gefahr, dass eine Generation heranwaechst, die nicht mehr bereit sein wird, die Preise zu bezahlen, die unsere Bauern brauchen, um die vielgestaltigen, kleingliedrigen, fuer den Tourismus so wichtigen Landschaften zu erhalten, wie wir sie in weiten Teilen von Rheinland-Pfalz, Baden-Wuerttemberg oder in Bayern noch finden. Selbst Gesundheitsfreaks werden dann, dem Trend "Geiz ist geil" folgend, auf Massenprodukte, auch Biowaren, setzen, egal, wo sie erzeugt wurden. Kollektiver Wissensverlust bedroht heimische Landwirtschaft und Landschaft. Wer etwas nicht kennt, vermisst es auch nicht.

Schon bald koennte es für wirksame Gegenmassnahmen zu spaet sein. Steht die Generation der heute ueber 70-Jaehrigen nicht mehr zur Verfuegung, die ihr Wissen ueber Natur und Landschaft, ueber Tiere und Pflanzen, deren Zusammenhaenge zwischen Produktion und Verarbeitung noch weitergeben kann, geht traditionelles Volkswissen auf breiter Ebene verloren.

Wenn die Oma dem Enkel zeigt, wie man einen Apfelkuchen selbst backt, wie man Marmelade einkocht, wie man gefuellte Kalbsbrust oder Saumagen macht, hilft dies langfristig Natur und Kultur. Bei Toechtern und Soehnen haben die Omas es meist schon versaeumt. Die Weitergabe uralten Volkswissens waere das beste Vermaechtnis an die juengere Generation.

Denn es geht um nichts anderes als um die Zukunftsfaehigkeit unserer Gesellschaft. So wie sich die Buerger ihrer demokratischen Rechte und Pflichten bewusst sein muessen, sollten sie wenigstens auch Grundkenntnisse ueber ihre eigenen Lebensgrundlagen und damit die wichtigste Basis der Daseinsvorsorge haben. In diese Richtung zielt auch die im Januar beginnende Weltdekade "Bildung fuer eine nachhaltige Entwicklung", die von der Vollversammlung der Vereinten Nationen fuer 2005 bis 2014 ausgerufen wurde.

Als Beitrag dazu hat etwa die Umweltakademie Baden-Wuerttemberg eine Offensive fuer breitere Umweltbildung in Kindergaerten gestartet, um Erzieherinnen zu zeigen, wie das Wissen um Tiere, Pflanzen, Natur und Ernaehrung ohne erhobenen Zeigefinger an die Generation von morgen vermittelt werden kann. In dieselbe Richtung zielen Naturerlebnisseminare, die von der Landeszentrale fuer Umweltaufklaerung Rheinland-Pfalz organisiert werden.

Auch andere Projekte lassen hoffen: Dazu gehoeren der Baumwipfelpfad bei Fischbach im Pfaelzerwald oder die Kinder-Uni an den Universitaeten Hohenheim und Tübingen. Freilichtmuseen, Naturschutzzentren und Umweltverbaende spannen bei ihren Veranstaltungen immer mehr den Bogen zwischen Natur und Kultur.

Gute Beispiele kann es gar nicht genug geben. Denn eines ist klar: Wo die Menschen ihr Herz haben, dort investieren sie auch Zeit und Geld. Das hilft nicht nur, unnoetige Reparaturkosten von morgen - sei es bei der Gesundheit oder bei der Umwelt - zu vermeiden, sondern traegt vielfache Zinsen in Form von mehr Lebensqualität.

Das Wissen ueber die Natur schwindet: "Das Fell der Kuh ist so weich", schwaermt das Kind und streichelt das Tier. Nur, dass es sich bei der Kuh um ein Schaf handelt.